Rede zur Eröffnung der Denkwerkstatt der Landtagsfraktion der sächsischen LINKEN am 22. April 2010 in Dresden
Rede zur Eröffnung der Denkwerkstatt der Landtagsfraktion der sächsischen LINKEN am 22. April 2010 in Dresden
Es gilt das gesprochene Wort!
Das Jahr 2009 war ein so genanntes Super-Wahljahr mit diversen Kommunal-, mit Europa-, mit mehreren Landtagswahlen und schließlich auch mit Wahlen zum Deutschen Bundestag.
Besorgniserregend war dabei die immer weiter zurückgehende Beteiligung der Menschen.
Bei den Wahlen für die Stadt- und Gemeinderäte lag die Wahlbeteiligung deutlich unter 50 Prozent, bei der Landtagswahl nur knapp darüber.
Bei der Bundestagswahl schließlich gingen noch zwei Drittel an die Urnen, das waren aber knapp 11 Prozent weniger als noch vor vier Jahren.
1989/90 war die Forderung nach freien und geheimen Wahlen, nach einer wirklichen Auswahlmöglichkeit unter den politischen Parteien eines der zentralen Kernthemen in der Endzeit der DDR, und das nicht nur seitens der Bürgerbewegungen und neuen politischen Kräfte.
Heute, zwanzig Jahre später muss man konstatieren, dass im Osten selbst bei wirklich wichtigen Wahlen im Schnitt jeder Zweite zu Hause bleibt, und dieser Negativtrend verstärkt sich eher noch.
Eine solche Entwicklung kann und darf die Politik nicht ignorieren, zumal durch eine derart geringe Wahlbeteiligung auch Fragen nach der tatsächlichen Legitimation der Gewählten und damit letztlich auch der Legitimation von Regierenden aufkommen, und das – wie ich finde – völlig zu Recht.
Es muss endlich wirklich offen über die Ursachen geredet werden, die zu einer solchen Politik- oder gar Demokratieverdrossenheit geführt haben. Ein „Weiter So!“ in den Parteizentralen oder auch in den Parlamenten könnte über kurz oder lang verheerende Folgen haben. Ich persönlich denke, wir haben zum Umsteuern nicht mehr viel Zeit.
Die Unzufriedenheit mit den politischen Verantwortungsträgern nimmt tendenziell immer mehr zu und das Vertrauen in die Politik nimmt immer mehr ab.
Die Hauptschuld daran trägt die Politik selbst. Es sind nicht die Medien, die dieses Bild produzieren. Presse, Rundfunk und Fernsehen überzeichnen bisweilen sicher manchmal, nicht alle Journalisten sind immer völlig objektiv und parteipolitisch neutral, aber Fakt ist doch:
Sie berichten in aller Regel über real stattfindende Vorgänge, über parteiinterne Querelen, über Zerwürfnisse und Personaldebatten in den Parlamentsfraktionen, über Versprechen vor und die tatsächliche Politik nach der Wahl, über Koalitionskrisen wegen Kompetenzgerangel und Profilierungssucht, über fachlich inkompetente Äußerungen von Regierungsvertretern und völlig überzogene Forderungen von Oppositionspolitikern, über skrupellose Karrieristen und leider auch über Korruption und Machtmissbrauch der Herrschenden.
Unser derzeitiges politisches System ist untrennbar mit der Existenz politischer Parteien verbunden, so dass die Frage nach der Effizienz, der Wirksamkeit und der öffentlichen Akzeptanz der Parlamente ganz wesentlich vom jeweiligen Zustand der real existierenden Parteien abhängig ist, und dieser Zustand ist stark verbesserungswürdig, um es vorsichtig zu formulieren.
Dennoch denken die großen Parteien nicht im Traum daran, etwas von ihrer Macht abzugeben, oder – wie es die ehemalige FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher einmal formulierte: „Alle Macht geht vom Volke aus und kehrt nie wieder dahin zurück.“
Plebiszitäre Elemente wie einen Volksentscheid sieht das Grundgesetz unseres Landes mit Ausnahme bei der Zusammenlegung von Bundesländern gar nicht erst vor, selbst existenzielle Fragen der europäischen Einigung, konkret die Verträge von Maastricht und Lissabon wurden über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden. Dabei haben doch Bürgerbefragungen in Frankreich, Dänemark oder auch Irland gezeigt, dass die Menschen sehr wohl imstande sind zu entscheiden, welchen politischen Kurs sie einschlagen möchten.
Überhaupt geht es in entscheidenden Bereichen der Gesellschaft immer weniger nach Kompetenz als nach Parteibuch. Über die Besetzung von Schlüsselstellen in Aufsichtsräten der Wirtschaft, in den Medien, im Schulbereich, in den Institutionen der Judikative oder den wichtigen Gremien kommunaler Einrichtungen – vom Klinikdirektor über den Sparkassen-Leiter bis hin zum Chef der städtischen Wasserwerke – entscheiden letztendlich nahezu ausschließlich die Parteien. Da deren Zustand aber zunehmend prekärer wird, gerät auch das politische System insgesamt ins Wanken.
Gegenwärtig vermögen weder Außenstehende noch Insider kaum zu erkennen, dass die Politiker im fairen Meinungsstreit gemeinsam nach den besten Lösungen für anstehende Probleme suchen. Sachfragen treten mehr und mehr in den Hintergrund. Häufig geht es allein um den puren Machterhalt. Allein aus Sachsen könnte ich dazu Dutzende Beispiele anführen.
Die Einbindung in Koalitions- und Fraktionszwänge hat inzwischen Ausmaße angenommen, die zunehmend selbst von vielen Parlamentariern als unerträglich empfunden werden. Inzwischen wird beispielsweise im Deutschen Bundestag vor speziellen Abstimmungen ganz unverblümt bekannt gegeben, dass dieses Mal der Fraktionszwang aufgehoben sei, sprich jeder Abgeordnete frei entscheiden könne. Die Regel der unbeschränkten Gewissensfreiheit, wie sie die Mütter und Väter des Grundgesetzes formulierten, ist zur Ausnahme mutiert.
In der ersten Legislaturperiode nach der deutschen Einheit gab es im Bundestag mehrere tausend Abstimmungen. Ganze drei davon waren offiziell freigegeben, nämlich die Hauptstadtfrage Bonn/Berlin sowie die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs und des Asylrechts.
Aber zurück in die jüngste Zeit. Was haben wir in den letzten Jahren und Monaten nicht alles erlebt: Gebrochene Wahlversprechen en gros. Der wohl dreisteste Fall war die Mehrwertsteuer-Lüge der Bundestagswahl von 2005. Die CDU redete im Wahlkampf immerhin von zwei Prozent Anhebung, die Sozialdemokraten erklärten, mit ihnen werde es keinerlei Erhöhung geben. Dann bildeten beide eine Große Koalition und hoben die Mehrwertsteuer um sage und schreibe drei Prozent an.
Die einst so große und vor allen Dingen auch stolze Volkspartei SPD befindet nach der Agenda 2010 von Gerhard Schröder in einem dramatischen Niedergang, über den sich niemand freuen kann, der für einen nachhaltigen Politikwechsel in Deutschland arbeitet. Wir als LINKE tun das bekanntlich.
Hartz IV, die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 und andere vergleichbare Entscheidungen haben der SPD ihre Seele geraubt, und ganz nebenbei verlor die Partei auch noch hunderttausende Mitglieder.
Da gab es in Hessen eine Mehrheit für Rot-Rot-Grün, die nicht zum Tragen kommen durfte, weil die SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti sich vor der Wahl zur der Aussage hatte verleiten lassen, auf keinen Fall mit der LINKEN zusammenzuarbeiten.
So blieb der eigentlich abgewählte CDU-Ministerpräsident Koch weiter im Amt, und als Frau Ypsilanti dann doch eine andere Regierung bilden wollte, fielen ihr vier Abgeordnete aus der eigenen Fraktion in den Rücken und verhinderten den Machtwechsel. Die Neuwahlen wurden für die hessische SPD ein Debakel, und Koch führt noch immer die Regierung in Wiesbaden.
In Thüringen gab es im letzten Herbst eine Mehrheit für Rot-Rot, die unter Einbeziehung der Grünen sogar richtig komfortabel gewesen wäre.
Christoph Matschie, der im Wahlkampf als Hauptziel die Ablösung der CDU propagierte, war nach der Wahl dann aber doch wichtiger, den ersten Ministerpräsidenten der LINKEN zu verhindern, anstatt die CDU endlich in die Opposition zu schicken und ganz nebenbei auch noch die Einflussmöglichkeiten der SPD im Bundesrat zu erhöhen.
In wenigen Tagen gibt es die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Doch anstatt aus Hessen gelernt zu haben, geben Herr Beck und Frau Kraft in aktuellen Interviews nun erneut die Ypsilanti und nehmen damit in Kauf, dass es in NRW auch in den kommenden fünf Jahren einen CDU-Ministerpräsidenten geben wird. Man fragt sich, was eigentlich noch passieren muss, ehe die Sozialdemokraten wirklich wieder einen klaren Kurs fahren.
Die CDU hat ein klares Ziel. Sie will die Regierung führen, im Bund wie in den Ländern. Der SPD aber ist im Zweifel die Juniorpartnerschaft unter einem CDU-MP lieber als eine Koalition mit der LINKEN.
Und dies selbst dann, wenn sie wie in Hessen oder NRW dabei den Ministerpräsidenten stellen könnte. Ich finde das schlichtweg absurd!
Genauso absurd finden es viele Wählerinnen und Wähler, und die meisten können im Übrigen auch nicht begreifen, dass man in NRW und leider auch hier bei uns in Sachsen bei der CDU einen Ministerpräsidenten für ein Foto und oder ein Gespräch quasi vermietet, um die Parteikassen aufzufüllen. Wo sind wir eigentlich hingekommen?
Wenn man all das und vieles mehr Revue passieren lässt, dann kommt man nicht umhin festzustellen: Das deutsche Parteiensystem befindet sich seit Jahren in einer tiefen Krise und darunter leidet fast zwangläufig auch die Akzeptanz unserer parlamentarischen Demokratie.
Doch was ist die Alternative? Statt der Wahl von Parteien die reine Personenwahl, also nur die Vergabe von Direktmandaten? Dann säßen im Sächsischen Landtag 58 Abgeordnete der CDU und zwei von den LINKEN. Spiegelt das die tatsächliche Vielfalt in der Gesellschaft wirklich wieder?
Und führt das nicht dazu, dass diejenigen gewählt werden, die im Wahlkampf durch Sponsoren und Medien besonders unterstützt werden? Ähnlich problematisch wäre die Einführung eines reinen Mehrheitswahlrechts, wie es beispielsweise in England eine lange Tradition hat.
Aber Fakt ist: Es muss sich spürbar etwas ändern. Wenn die Parteien nicht auf den zunehmenden Frust und auf die Wahlverweigerung reagieren, dann werden immer mehr Menschen ihnen den Rücken kehren.
Über solche und viele andere Fragen wollen wir in der neuen Denkwerkstatt der Landtagsfraktion der LINKEN diskutieren, deren Gründung ganz maßgeblich auf die Initiative von Prof. Gerhard Besier zurückgeht, der als Abgeordneter im Landtag dem Ausschuss für Wissenschaft, Hochschulen, Kultur und Medien vorsteht.
Wir wollen Sachsens Zukunft von LINKS denken, aber dieses Nach-Denken nicht in den engen Grenzen unserer Partei vollziehen. Wir wollen zu einem neuen Diskurs anregen, und sind offen für Anregungen linker Intellektueller, egal wo sie sich selbst parteipolitisch verorten.
Viele der heute hier Anwesenden sind sich sicher darin einig, dass die seit 20 Jahren anhaltende Vorherrschaft der CDU in Sachsen immer weniger mit objektiven wirtschaftlichen und schon gar nicht mit sozialen Vorzügen des Freistaats gegenüber anderen ostdeutschen Bundesländern zu tun hat, sondern mit einem Politik-Mythos nach bayerischem Vorbild der CSU, der zwar inzwischen hier wie dort bröckelt, aber noch nicht zusammengebrochen ist.
Deshalb ist es notwendig, die Auseinandersetzung mit der herrschenden konservativen Politik nicht nur in Form einer tagespolitischen Abrechnung der jeweils aktuell zutage tretenden Fehler und Defizite zu führen, sondern den Kampf um die geistige Hegemonie im Lande zu suchen und dabei auch mit den Menschen aus den derzeitigen Funktionseliten ins Gespräch zu kommen, denen das intellektuelle Niveau der die Regierung tragenden Fraktionen und der dahinter stehenden Parteiapparate einfach zu niedrig ist.
Es geht uns daher auch nicht darum, einfach dem Comenius-Club der CDU-Fraktion Konkurrenz zu machen.
Denn dessen gesellschaftlicher Hauptzweck ist das Sehen und gesehen werden der oberen Fünfhundert aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung, garniert von stramm konservativen Predigtangeboten.
Wir entscheiden uns bewusst für ein anderes Format, „klein, aber fein“, und wollen uns in diesem Sinne im Laufe der Legislaturperiode nicht als x-ter Politik-Event neben unzähligen anderen, sondern als echter Geheimtipp etablieren. Deshalb sollte unser Profil auch nicht das plumpe ideologische Gegenstück sein, sozusagen stramm links, sondern anders, offener und auch spannender.
Wir haben uns in der Fraktion dafür entschieden, den Göttinger Politik-Wissenschaftler Prof. Franz Walter für die Premiere unserer Denkwerkstatt nach Dresden einzuladen. Sein Thema lautet „Parteien in der Krise – Parlamente ohne Macht? Oder: Wie man mehr Leben in den Landtag und die Demokratie in Sachsen bringen kann!“ Dieses Thema greift die bohrenden Selbstzweifel der meisten politisch Engagierten, ganz gleich welcher Partei sie sich zugehörig fühlen, auf und bringt das Fragen nach dem Sinn unseres politischen Tuns auf den Punkt. Das ist – wie ich finde – ein guter Beginn für den schrittweisen Aufbau unserer Fraktions-Denkwerkstatt.
Dass der erste Referent nicht nur ein ambitionierter Parteienforscher, sondern zugleich SPD-Mitglied ist, ordnet bereits mit der Start-Veranstaltung unser neues Projekt ein in die mittel- und langfristige Arbeit an der Herbeiführung von Wechselstimmung im Land. Wenn wir Sachsens Zukunft von LINKS denken wollen, um sie von links gestalten zu können, also den Gedanken zum Wort und das Wort zur Tat werden zu lassen, brauchen wir alle guten Ideen und die gesammelte politische Leidenschaft aller Menschen, die es auf aufgeklärte Weise mit Sachsen gut meinen. In diesem Sinne heiße ich Sie alle ganz herzlich willkommen!