Rede auf Vorweihnachts-Fraktionssitzung im Erzgebirge
Liebe Genossinnen und Genossen,
liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als wir gegen Ende der letzten Legislaturperiode im Juni auf dem „Theaterkahn“ im Dresdner Elbtal gemütlich bei einander saßen, sagte ich, dass wir ein schweres Jahr hinter uns haben. Da wusste ich auch noch nicht, was in den nachfolgenden Monaten noch alles kommen würde …
Heute, nachdem wir gemeinsam einen „Weihnachtsberg“ erklommen haben und aus der Höhe des Erzgebirges in die Niederungen der Landespolitik schauen dürfen, ergänze ich: Weil wir alle zusammen in Sachsen eine schwere Zeit durchmachen mussten, an dessen Beschwernissen wir als LINKE selbst einen gehörigen Anteil hatten, war das Super-Wahljahr hier bei uns im Ergebnis auf allen Ebenen leider nicht so super, wie wir uns das erhofft haben.
Doch wenn wir jetzt, nach den Wahlen in Fraktion und Partei und den, wie ich finde, erfreulichen Anzeichen konstruktiver Arbeit in Fraktion und Partei sowie vor allem miteinander, in die Welt schauen, dann sehen wir: Das Leid ist endlich, und eigenes Leid relativiert sich zudem, wenn man sein Leben mit dem Schicksal vergleicht, das seinen Mitmenschen bestimmt ist. Besonders dann, wenn es sich um Genossinnen und Genossen handelt.
Was sich in den vergangenen Monaten in Thüringen und Brandenburg abgespielt hat, war für niemanden von unseren Leuten, die dort besondere Verantwortung tragen, vergnügungssteuerpflichtig. Und manche Aufführung, die rund um unsere Partei auf Bundesebene in letzter Zeit geboten wurde, kann eigentlich nur durch ein Versehen auf den politischen Spielplan gekommen sein. Auch wenn ich mit enttäuschten Hoffnungen begonnen habe, möchte ich in diesen Fällen wieder hoffen: Dass es wirklich nur Versehen waren! Und wenn nicht, dass nun die Zeit jetzt zur Einkehr und Besinnung genutzt wird!
Der Vorteil der Religion ist ja für den, der daran glaubt, dass sie im Prinzip nie enttäuschen kann. Denn alles, was geschieht, lässt sich aus gläubiger Sicht so interpretieren, dass sich Gott schon etwas dabei gedacht hat, und damit hat alles seinen Sinn. In dem Maße, in dem diejenigen, die sich für Stellvertreter Gottes auf Erden halten bzw. dafür gehalten werden, den Anspruch erheben, an dieser göttlichen Allweisheit Anteil zu haben, entstehen natürlich Probleme. Die kann die Gesellschaft lösen – zum Beispiel durch eine Reformation.
Als diejenigen, die sich Kommunisten nannten, es mit ihrer Gottähnlichkeit zu weit trieben und als der Spruch „Die Genossen werden sich schon was dabei gedacht haben“ zum Kalauer geraten war, löste die Gesellschaft auch dieses Problem: durch eine so genannte friedliche Revolution. Beides, Reformation und Friedliche Revolution, nahmen in jener deutschen Region ihren Ausgang, in der wir dank unbegreiflicher Fügung politisch zu wirken haben.
Das ist, wie wir nach zwanzig Jahren Platzierung auf den harten Oppositionsbänken des Sächsischen Landtages wissen, kein leichtes Los.
Wenn man da nicht schwermütig werden will – auch diese Gefahr ist in Sachsen relevant, schließlich liegen wir nachgewiesener Maßen seit über hundert Jahren auf einem statistischen Spitzenplatz beim Thema Freitod –, braucht man große Gedanken als Hoffnung spendende Orientierung.
Heiner Müller war zweifellos ein Großer auf dem Gebiet der Kultur, und ohne kulturvollen Stil kommt bekanntlich selbst die gut gemeinte Politik auf den Hund – oder noch Schlimmeres. Aber dass ich in Anbetracht meiner historischen Reminiszenz einmal wie Müller an eine mögliche künftige Konvergenz von Katholizismus und Kommunismus glauben werde, womit gewissermaßen Reformation und friedliche Revolution in einem neuen Zustand aufgehoben wären, ist doch recht unwahrscheinlich.
Nicht nur weil ich eine evangelisch-lutherische Frau habe und selbst in geordneten heidnischen Verhältnissen aufgewachsen bin, derer ich mich niemals schämen würde – nicht mal angesichts der Pracht einer Barockkirche!
Denn ich bekenne heute freimütig – ganz ohne Bekenntnisse geht es ja wohl im Osten Deutschlands nie ab, ob zur Zeit der Wittenberger Thesen oder der Thesen der sächsischen LINKEN zu 20 Jahren friedliche Revolution: An die Vision des baldigen kommunistischen Paradieses auf Erden habe ich nie so recht geglaubt, dafür war ich schon zu DDR-Zeiten als Fußball-Schiedsrichter zu sehr mit menschlicher Niedertracht in Form von offenen und verdeckten Fouls vertraut. Aber dass die Ideen des demokratischen Sozialismus den Menschen im Sinne eines realen Humanismus eine tatsächliche vernünftige Orientierung bieten kann, im Unterschied zu der heute von herrschender Politik verlangten Anbetung der unsichtbar wirkenden Hand des Turbo-Kapitalismus – das halte ich, Politik oder Religion hin oder her, doch für eine Wahrheit.
Und für diese Wahrheit lohnt es sich gerade in Sachsen zu kämpfen.
Dass der Sonntag – siehe den jüngsten Beschluss zur Ladenöffnung durch eine linken Mehrheit im Dresdner Stadtrat – mittlerweile von demokratischen Sozialistinnen und Sozialisten geschützt wird und von einer sich christdemokratisch nennenden Partei bedroht ist, mag ein Signal sein: Ein Signal, dass wir dabei sind, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, und dass dabei diejenigen aus dem Scheinwerferlicht gedrängt werden, die meinen, die Menschen in Sachsen mit schwarz-gelben Visionen wie diesen erlösen zu sollen: Alte Bäume fällen, wenn man keine Lust mehr zum Laubrechen hat; grenzenloses Ausleihen von Videos, wenn man zu phantasielos ist; Rauchen immer und überall, auch wo Kinder mitatmen; tägliches Rund-um-die-Uhr-Shopping, bis der Arzt kommt. Das ist die grelle neue schwarz-gelbe Welt, die so sehr bar aller inneren Werte ist, dass ich darauf warte, wann der erste Bischof zur Wahl der LINKEN aufruft …
Vielleicht dauert auch das in Sachsen ein wenig länger als anderswo, aber es wird kommen, da bin ich sicher!
Weihnachten ist – gerade für den, der nicht alle vier Adventssonntage im Einkaufsstress verbracht hat und nicht noch Heiligabend nach irgendeinem Event jagt – ein wohl einzigartig faszinierendes Fest. Es zieht Menschen seit Menschengedenken in seinen Bann, und das ganz unabhängig davon, ob sie einen Gott über sich sehen oder nicht. Deshalb sind die Erzgebirgler zu Recht stolz darauf, dass ihnen das „Weihnachtsland“ gehört. Und so nimmt es nicht Wunder, dass auch unsere Fraktion häufig und gern ihren Jahresabschluss im Dunstkreis des erzgebirgischen Weihnachtslandes feiert. Dass der Aufbau dieses Weihnachtslandes auch blanker wirtschaftlicher Not geschuldet war, wertet es nicht ab, im Gegenteil: Es zeigt, dass Menschen gerade auch in Sachsen in Krisenzeiten zumindest manchmal auf richtig gute Ideen kommen.
Dank dieser guten Ideen ist jetzt das Erzgebirge ein Markenzeichen für Weihnachten, während die Lausitz für Ostern zuständig ist. So ist Sachsen nicht nur die Wiege der abendländischen Industrie, sondern hat inzwischen auch das Copyright für die optimale kulturelle Umrahmung der christlichen Hochfeste. Keine Sorge, ich werde jetzt nicht auch noch über die Osterreiter reden, auch wenn hier eine weitere politische Marktlücke entstanden ist, seit Stanislaw Tillich nicht mehr mitreitet.
Aber ich will dem biblischen Grundsatz treu bleiben, dass alles seine Zeit hat, und in einer Zeit, in der Baumärkte ab September Weihnachtsdekoration anbieten und zu Beginn der Fastenzeit Schokoladen-Osterhasen in der Kaufhalle auftauchen, haben wir demokratischen Sozialisten die politische Verantwortung, den Menschen wieder einen verlässlichen Lebensrhythmus zu ermöglichen. Und dazu gehört, dass wir zwischen dem dritten und vierten Advent über Weihnachten reden – und nicht schon über Ostern.
Die Weihnachtsgeschichte gehört zweifellos zu den schönsten Geschichten, die der Menschheit bisher eingefallen sind. Dass ein Gott als kleines Kind auf die Welt kommt, um den Menschen zu zeigen, dass die wahre Größe nicht in Pomp und Protz besteht, sondern in schlichter Mitmenschlichkeit, ist eine faszinierende Idee.
Auch wer sich nicht zu den Gläubigen zählt, kann diese wunderschöne Geschichte als Gleichnis für eine Welt betrachten, in der bessere Regeln gelten als in der real existierenden. Man kommt jedenfalls von der Weihnachtsgeschichte, wenn man sie ernst nimmt, eher zum Sozialismus als zum marktradikalen Recht des Stärkeren.
Die Muslime halten Jesus von Nazareth immerhin für einen großen Propheten, der, wenn es zu seiner Zeit schon den Islam gegeben hätte, mit Sicherheit gegen ein Minarettverbot aufgetreten wäre.
Auch Humanisten stehen mit Hochachtung vor seinen Grundsatzreferaten, wie z. B. der Bergpredigt, selbst wenn sie gerne hinzufügen, dass seine Ideen irgendwie zu gut für diese Welt sind, denn wie weit kommt man im praktischen Leben, wenn man immer noch die andere Wange hinhält, nachdem man den ersten Schlag abbekommen hat?
Doch wird nicht auch uns LINKEN genau dies von den schwarz-gelben Pseudo-Pragmatikern vorgehalten: Dass unsere Idee der Solidarität zwar die Seele erwärmt, aber am angeblich naturgegebenen Egoismus des Homo sapiens scheitern muss? Zugleich nehmen immer mehr Menschen auf der ganzen Welt wahr, dass sich für die Schlüssel-Probleme der Menschheit, ohne deren Lösung unsere Spezies langfristig auf dieser Erde nicht bestehen kann – ich nenne nur das Stichwort Klimaschutz –, Auswege letztlich nur dann finden lassen, wenn das scheinbar Weltfremde zur Richtschnur für die Gestaltung der Zukunft wird.
So erlaube ich mir zum Schluss, bevor wir uns dem gemütlichen Teil des heutigen Tages mitsamt einem gewiss anregenden Kulturprogramm zuwenden, den persönlichen Wunsch, dass diese Fraktionssitzung im Weihnachtsland uns auf dem guten Weg, den wir in den letzten Monaten gemeinsam begonnen haben zu beschreiten, auch menschlich ein weiteres Stück voranbringt.
Wir müssen uns ja nicht alle lieben, das wäre sicherlich für alle Beteiligten zu anstrengend. Aber wenn wir uns – verbunden durch die Arbeit an unserer gemeinsamen guten Sache – noch ein bisschen mehr mögen als bisher, dann werden uns auch die Menschen in Sachsen wieder noch mehr mögen.
Denn wo gute Stimmung herrscht, da werden auch wie durch einen starken Magneten viele neue Stimmen angezogen.
Hubert Protzel hat heute Nachmittag im Bergbaumuseum von Zusammengehörigkeitsgefühl unter Tage gesprochen. Ich wünsche uns, dass wir das künftig auch über Tage entwickeln.
So kann Sachsen dann 2014 tatsächlich jene neue Mehrheit bekommen, die es braucht, damit die soziale Botschaft der Weihnachtsgeschichte in der Staatskanzlei nicht nur Thema ist, wenn die Sternsinger anlässlich des Festes Heilige Drei Könige Einlass begehren. Und diese Sternsinger – das sei hier im Übrigen versprochen – werden auch dann noch in der Staatskanzlei empfangen, wenn dort dermaleinst ein Roter residieren sollte.
In diesem Sinne möchte ich jetzt mit Euch das Glas erheben – auf unser gemeinsames politisches Projekt, das im Alltag mit vielen kleinen, oft scheinbar aussichtslosen Initiativen beginnt, um schließlich Größeres zu vollbringen: ein soziales Sachsen, und das nicht nur im Weihnachtsland und nicht nur zur Weihnachtszeit! Glück auf!