Beitrag zur Geschichtskonferenz der sächsischen LINKEN
Impulsreferat auf der Geschichtskonferenz der sächsischen LINKEN zum Thema „Der Runde Tisch der DDR“
Dresden, 28. März 2009
(Es gilt das gesprochene Wort!)
Bevor ich zum eigentlichen Thema „Runder Tisch“ komme, gestattet mir zwei Vorbemerkungen, zum einen zur Demonstration der Jungen Union heute zu Beginn unserer Konferenz und zweitens zum Begriff „Friedliche Revolution“.
Die Demo der JU hat mich doch einigermaßen verwundert. Gerade von Seiten der CDU wird immer wieder gefordert, dass wir unsere Geschichte aufarbeiten sollen – was die Union nie wirklich getan hat –, und wenn wir es dann zum wiederholten Male tun, dann demonstrieren die Christdemokraten medienwirksam dagegen. Mit Glaubwürdigkeit hat das ganz sicher nichts zu tun.
Und wenn wir im Titel unserer Konferenz an den Ruf „Wir sind das Volk!“ erinnern, dann ist das keine Vereinahmung, wie CDU und FDP behaupten, sondern eine Ehrerbietung gegenüber jenen, die 1989 auf die Straße gegangen sind. Niemand leugnet, dass die Proteste sich vor allem gegen die SED-Führung richteten, aber zugleich ist es eben auch wahr, dass sich unter den Demonstranten nicht wenige SED-Mitglieder befanden. Ich selbst habe damals in Berlin an mehreren Demos teilgenommen, während viele Mitglieder der Block-CDU als Beobachter hinter den Gardinen standen und erst einmal abwarteten, wie sich die Dinge entwickeln.
Nun noch einige wenige Sätze zu jenem Begriff, der anlässlich des 20. Jahrestages die Ereignisse des Herbstes 1989 in zwei Worten zusammenfassen soll: „Friedliche Revolution“.
Ich habe überhaupt nichts gegen diesen Begriff, wenn er umgangssprachlich im Alltag in den Diskussionen über die individuellen und gemeinsamen Erinnerungen an die Zeit der Montagsdemonstrationen und des Mauerfalls verwendet wird. Natürlich wurden diese Wochen als „revolutionär“, als umstürzlerisch empfunden – das Untere wurde zuoberst gekehrt.
Das Politbüro verschwand, als hätte es nie bestanden, und ich saß als junger Forschungsstudent plötzlich am Zentralen Runden Tisch der DDR. Dort habe ich mit Sicherheit mehr zur „friedlichen Revolution“ beigetragen als beispielsweise der heutige sächsische Ministerpräsident Tillich (CDU), der als stellvertretender Vorsitzender des Rates des Kreises Kamenz in die Revolution geriet und sie ohne große Turbulenzen geräuschlos überstand.
Es ist daher auch ein Treppenwitz der Geschichte, dass uns ausgerechnet die CDU den Begriff „Friedliche Revolution“ gleichsam als feierliches Bekenntnis abnötigen will.
Wie gesagt, in einem umgangs- und alltagssprachlichen Sinn spreche ich gerne von einer friedlichen Revolution, auch deshalb weil uns zum Glück Vorgänge wie in Rumänien erspart blieben.
Im Übrigen bleibe ich dabei: Auch das Gros der Bürgerrechtler, die in Distanz zur SED standen, wollte zunächst eine bessere, eine demokratische DDR und keinen Beitritt zur Bundesrepublik.
Und diejenigen, die eine Vereinigung beider deutscher Staaten anstrebten, wollten dies auf der Basis einer neuen gemeinsamen Verfassung haben. Was aber niemand unter den Bürgerrechtlern wollte, war der Beitritt zu einem Land, das fortan durch Sozialabbau, Beteiligung am Kosovo-Krieg, Soldaten am Hindukusch und Einschränkung von Grundrechten ein Gutteil seiner Qualitäten aufs Spiel setzen sollte.
Wer die DDR erlebt hat, ist sich des Freiheitszuwachses bewusst, den uns der Mauerfall und die Zeit danach gebracht haben. Als jemand, der aktiv am Runden Tisch mitgewirkt hat, weiß ich aber auch um die damaligen Forderungen nach Erweiterung der demokratischen Grundrechte, von denen viele bis heute nicht eingelöst sind. Deshalb spreche ich persönlich mit Blick auf 1989 lieber von einem gesellschaftlichen Umbruchsprozess.
Eine Revolution transformiert eine Gesellschaft auf eine höhere Entwicklungsstufe. Mit Blick auf Meinungs- und Pressefreiheit, die Gewaltenteilung einschließlich der Möglichkeit, vor dem Verwaltungsgericht den Staat selbst zu verklagen, und nicht zuletzt die persönliche Bewegungs- und Reisefreiheit haben wir tatsächlich revolutionäre Fortschritte erlebt. Doch gerade jetzt im 20. Jahr danach, angesichts der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise seit 80 Jahren, der dramatisch zunehmenden Spaltung in Arm und Reich sowie unabsehbarer sozialer, ökologischer und ökonomischer Risiken erscheint es vielen Menschen durchaus fraglich, ob wir uns damals – langfristig betrachtet – tatsächlich auf eine höhere Entwicklungsstufe der Gesellschaft begeben haben.
Gleichwohl besteht kein Zweifel daran, dass der so genannte Realsozialismus spätestens 1989/90 gescheitert war.
Ob wir guten Gewissens von einer friedlichen Revolution sprechen können, entscheidet sich nicht zuletzt auch daran, wie wir mit der schwersten globalen Krise des Kapitalismus umgehen, die wir gegenwärtig erleben.
Selbst der Hamburger Erste Bürgermeister Ole von Beust (CDU) hat ja in einer viel beachteten Rede festgestellt, dass der Kapitalismus gescheitert ist. Es geht also, füge ich hinzu, jetzt um eine wirklich revolutionäre Idee: die Verknüpfung der innovativen Potenziale des Kapitalismus mit dem sozialen Potenzial eines demokratischen Sozialismus.
Nur so kann eine soziale Marktwirtschaft im guten Sinne neu erfunden und eine stabile Gesellschaft geschaffen werden, der ich dann gerne den Status zubillige, einen dauerhaft höheren Entwicklungsstand erreicht zu haben als die DDR.
Aber auch als LINKE müssen wir konstatieren: In der DDR wie in anderen sozialistischen Ländern wurden im Laufe der Jahre demokratische Institutionen, Traditionen und Verhaltensweisen zusehens zerstört und mitunter bis zur Unkenntlichkeit deformiert. Der Zusammenbruch des “Staatssozialismus“ war die folgerichtige Konsequenz. Die Kritik der Menschen auf der Straße fand im existierenden politischen System keine authentische Interessenvertretung.
Durch den Macht- und Autoritätsverlust der SED, von Regierung und alter Volkskammer war ein politisches Vakuum entstanden. Die Menschen waren sich einig, so kann es nicht weitergehen; sie waren sich nur noch nicht einig, wie es weitergehen sollte.
In diese Situation hinein wurde – durchaus auch nach polnischem Vorbild –
die Idee eines Zentralen Runden Tisches in Berlin geboren. Und diese Idee kam anders als vom Politbüro behauptet natürlich nicht von der SED, sondern von den neuen Parteien und Bürgerbewegungen.
Als der Runde Tisch am 7. Dezember 1889 zu seiner ersten Tagung zusammenkam, saßen 30 stimmberechtigte Mitglieder in dem Gremium. Je drei entsandten die ehemaligen Blockparteien SED, CDU, DBD LDPD und NDPD, je zwei die neuen politischen Kräfte Demokratischer Aufbruch, Demokratie Jetzt, Grüne Partei, Initiative für Frieden und Menschenrechte, Sozialdemokratische Partei, Vereinigte Linke. Um eine Parität herzustellen, erhielt das Neue Forum einen zusätzlichen Sitz und konnte drei Vertreter benennen.
In der konstituierenden sowie der zweiten Sitzung wurden dann noch der Unabhängige Frauenverband und der FDGB sowie die Grüne Liga und der VdgB mit jeweils zwei Stimmen als Mitglieder aufgenommen, so dass am Ende insgesamt 38 Plätze besetzt waren, wobei alte und neue Kräfte über jeweils 19 Sitze verfügten. Der Domowina als Vertretung der sorbischen Minderheit wurde ein Sitz mit beratender Stimme zugesprochen.
Die Sitzungsleitung lag ökumenisch bei drei kirchlichen Würdenträgern, und zwar Pastor Lange, Oberkirchenrat Ziegler und Monsignore Ducke.
An dieser Stelle auch ein Wort zur Rolle der Kirchen am Runden Tisch.
Pastor Martin Lange erklärte dazu: „Wir drei Moderatoren haben ganz bewusst nicht in die politische Diskussion am Runden Tisch eingegriffen. Wir haben versucht, die Gespräche zu vermitteln.
Wir haben dort nicht die Meinung der Kirchen ausgebreitet – da gab es andere Möglichkeiten.“ Alle drei kirchlichen Würdenträger betonten zudem die Notwendigkeit einer Trennung zwischen Staat und Kirche.
Nimmt man nur die Anzahl derer, die unmittelbar vor dem Beginn der Arbeit des Zentralen Runden Tisches beruflich im kirchlichen Bereich arbeiteten, so ergab eine Befragung, die ich Anfang der 90er Jahre im Rahmen meiner Dissertation durchgeführt habe und an der sich 153 von 193 Mitgliedern des Runden Tisches beteiligten, einen Anteil von gerade einmal 6,5 Prozent, was sicher weit geringer ausfällt, als allgemein angenommen.
Interessanter ist dagegen die Zahl derer, die vor dem Herbst 1989 in kirchlichen Gruppen oder Arbeitskreisen tätig waren bzw. eine theologische Ausbildung erhalten hatten.
Dabei handelt es sich immerhin um 31,4 Prozent (48 Personen) der befragten stimmberechtigten Mitglieder des Zentralen Runden Tisches. Ihr Anteil war mit 56,9 Prozent (41 von 72 Teilnehmern) in den neuen Parteien und Bewegungen überdurchschnittlich hoch, was kaum überraschen kann.
Durch die dogmatische und weitgehend lernunfähige Politik der alten SED-Führung avancierte die Kirche in dem sich weitgehend atheistisch definierenden Staat DDR direkt und indirekt zu einem innovativen Freiraum für gesellschaftliche Veränderung.
Insbesondere die Kirchen hatten sich nicht zuletzt durch den Dialog mit der Regierung einen bestimmten Handlungsspielraum erhalten.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass unter dem Dach speziell der evangelischen Kirchen die Möglichkeiten zu politischen Diskussionen und zum Protest genutzt wurden.
Nicht die Gemeinsamkeit der Weltanschauung, sondern die Einigkeit im Konflikt mit der Staatsmacht ließ Menschen unter dem Schutz der Kirche, die quasi eine Herbergsfunktion übernahm, zusammenkommen und Pluralismus proben.
Letzteres war vielen der von mir befragten Mitglieder des Runden Tisches offenbar besonders wichtig, denn auf die Frage nach einer etwaigen Mitwirkung in kirchlichen Gruppen antworteten zahlreiche Vertreter mit „Nein“ oder strichen beide Antwortvorgaben durch und fügten zum Beispiel hinzu „Arbeit nur unter dem Dach der Kirche, keine religiöse Bindung“, „informeller, nichtkirchlicher Arbeitskreis“ oder „keine kirchliche, sondern links-oppositionelle Gruppe“.
Diese Fakten und auch die angeführten Zahlen bestärken mich in der Ansicht, dass die Rolle der Kirchen im Herbst 89, vor allem hinsichtlich ihrer inhaltlichen Einflussnahme auf das Geschehen, im Allgemeinen überschätzt wird.
Dies bedeutet jedoch keinen Abstrich an der wichtigen Rolle von Kirchenvertretern beim Zustandekommen des Dialogs zwischen Opposition und Regierung sowie der Sicherung der friedlichen Entwicklung in der DDR bis zu den Wahlen vom 18. März 1990.
Doch zurück zum Zentralen Runden Tisch. Dieser verstand sich – wie auf seiner konstituierenden Sitzung festgelegt –, als “Bestandteil der öffentlichen Kontrolle“, der “keine parlamentarische oder Regierungsfunktion ausüben“ könne. Und dennoch war der Runde Tisch neben Regierung und Volkskammer ein gleichberechtigtes Machtzentrum, was schließlich in der Entsendung von Vertreterinnen und Vertretern als Minister in die Modrow-Regierung seinen beredten Ausdruck fand. Er war ein De-facto-Machtorgan, da er sowohl eine ausreichende Öffentlichkeit als auch eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung besaß. Dafür waren die Dominanz oppositioneller Gruppen sowie die Moderation durch kirchliche Würdenträgern ebenso erforderlich wie die Mitwirkung etablierter gesellschaftlicher Kräfte.
Heute, fast zwei Jahrzehnte später, lässt sich bei allen Turbulenzen und Konflikten in der Arbeit des Runden Tisches feststellen, dass er bis in seine Endphase hinein die objektiven Interessen der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger der DDR vertrat. Das Innovative des Runden Tisches in Berlin lag in der Mobilisierung der Menschen auf sehr direkte Weise.
Einzelpersönlichkeiten, Bürgerinitiativen und Bürgerbewegungen konnten unmittelbar in die Politikgestaltung eingreifen.
Der Runde Tisch stellte sich von Anbeginn das Ziel, einen repräsentativen demokratischen Parlamentarismus in der DDR zu begründen und bewies zusammen mit den vielen dezentralen “Runden Tischen“ zugleich das Funktionieren und die Möglichkeiten von unmittelbarer Demokratie.
Wenn man heute die Protokolle des Runden Tisches analysiert, wird deutlich, dass die Kräfte des politischen Widerstandes am Runden Tisch nicht nur gegen die in der DDR bestehenden Machtstrukturen opponierten, sondern in ihrer radikal- und basisdemokratischen Orientierung auch Traditionen bundesdeutscher Politik und Machtausübung in Frage stellten.
Ohne Zweifel: Die auf Parteienwettbewerb orientierte repräsentative Demokratie der Bundesrepublik Deutschland kann durch die für die deutsche politische Kultur nicht alltägliche Erfahrung der Arbeit der Runden Tische sinnvoll ergänzt werden. Demokratie heute bedarf neben der Qualifizierung der parlamentarischen Arbeit auch der Ergänzung durch außerparlamentarische, problem- und strukturorientierte Formen demokratischer Selbst- und Mitbestimmung.
Die Runden Tische haben einen interessanten Beweis angetreten:
Gib den Menschen Verantwortung und sie verhalten sich auch verantwortlich.
Der Zentrale Runde Tisch der DDR übte verschiedene Funktionen bei der
Formierung neuer, demokratischer Verhältnisse aus. Er trug dazu bei, den alten Repressionsapparat aufzulösen, die Öffentlichkeit politischer Prozesse herzustellen, war Kommunikationszentrum, Kontrollinstanz, beförderte die Gesetzgebung, sicherte die Vorbereitung der Wahlen, er ersandte Vertreter in die Regierung, übernahm Planungsaufgaben und stellte das Dach dar, unter dem sich ein wesentlicher Teil der Parteienformierung vollzog.
Von langfristiger Bedeutung wird die Funktion des Runden Tisches sein, einen nachhaltigen Beitrag zur politischen Elitenbildung geleistet zu haben. Dazu aus Zeitgründen heute nur wenige Fakten aus meiner Dissertation: An den Sitzungen des Zentralen Runden Tisches nahmen insgesamt 193 stimmberechtigte Vertreter von Parteien und Bewegungen teil. 52 davon waren Frauen, die damit unterrepräsentiert gewesen sind, wenngleich ihr Anteil vor allem in den neuen Gruppierungen höher war. Die Tätigkeit am Runden Tisch eröffnete für viele die Chance zur politischen Profilierung.
Unter den Teilnehmern des Runden Tisches befanden sich insgesamt 16 Abgeordnete der alten DDR-Volkskammer, darunter auch zwei sogenannte Nachfolgekandidaten. Dies betraf logischerweise ausschließlich Vertreter der alten politischen Kräfte mit Ausnahme der SED-PDS, im einzelnen die LDPD (6), die NDPD (5), die DBD (3) sowie die CDU und den VdgB (je 1). Weitere 7 Mitglieder des Rund-Tisch-Forums verfügten über Erfahrungen aus kommunalen Vertretungskörperschaften der Vorwendezeit.
Bei den Wahlen am 18. März 1990 errangen immerhin 28 Kandidaten ein Volkskammermandat, die vorher am Zentralen Runden Tisch gesessen hatten. Darunter befand sich nur einer, der auch schon im alten Parlament vertreten war, und zwar Günter Maleuda (DBD), der im Herbst ´89 zum Präsidenten der vorletzten Volkskammer avanciert war.
Dabei ergibt sich folgende Verteilung auf die einzelnen Parteien:
PDS (7), SPD (5), DA (3), CDU (2), IFM (2), GP (2), DJ (2),
NF (1), NDPD (1), DBD (1), VL (1).
Diese Zahl wäre mit Sicherheit erheblich größer, würde man auch die Teilnehmer an den regionalen Runden Tischen oder in den Arbeitsgruppen des Gremiums auf zentraler Ebene berücksichtigen. Da hierzu jedoch keine verlässlichen Daten vorliegen, war dies nicht möglich.
Ungeachtet der problematischen Quellenlage wagt der Autor die These, dass mindestens ein Drittel der 400 Volkskammerabgeordneten mit den Runden Tischen der verschiedenen Ebenen in Berührung kamen, bei den neuen politischen Kräften wird es wohl nahezu jeder zweite gewesen sein.
Der Runde Tisch wirkte, was die politische Elitenbildung betraf, doppelt: Er beförderte nicht nur die Neuformierung, insbesondere aus den Reihen der früheren außerparlamentarischen Opposition, sondern beeinflusste auch das Ausscheiden von alten Politikern aus der Verantwortung.
Bis heute erlangten von den 193 Teilnehmern des Zentralen Runden Tisches 47 ein Abgeordnetenmandat auf DDR-, Landes- oder Bundesebene, also unter dem Strich etwa jeder vierte.
Auch auf der staatlichen Ebene hinterließ der Runde Tisch Spuren. Dort saßen der spätere letzte Ministerpräsident der DDR, 8 Minister der beiden letzten Kabinette des ostdeutschen Staates, 1 Bundesminister, 5 Minister in Landesregierungen sowie 4 Staatssekretäre auf verschiedenen Parlamentsebenen.
Die exemplarische Untersuchung einer der 17 Arbeitsgruppen des Zentralen Runden Tisches, konkret der Arbeitsgruppe „Bildung, Erziehung und Jugend“, in welcher ich selbst damals mitwirkte, macht den Beitrag zur Elitenbildung besonders deutlich. Allein aus diesem Kreis gingen hervor:
der letzte Bildungsminister der DDR und spätere Minister für
Wissenschaft und Kunst des Freistaates Sachsen
die ehemalige Ministerin für Bildung, Jugend und Sport des Landes
Brandenburg und heutige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen
– die Regierungsbeauftragte für Gleichstellungsfragen der DDR
– der Vorsitzende des Bildungsausschusses der letzten Volkskammer
– eine stellvertretende Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung
und Wissenschaft (GEW) sowie die Vorsitzende der GEW Berlin-Ost
– der Bürgermeister der Gemeinde Buckow
– 5 Volkskammer-, 2 Bundestags- und 2 Landtagsabgeordnete.
Darüber hinaus gelangten 4 Mitglieder der Arbeitsgruppe später in
die höchsten Vorstände ihrer Parteien bzw. Bewegungen.
Insgesamt wurden nicht weniger als 54 Mitglieder des Zentralen Runden Tisches in der Folgezeit in die obersten Vorstände oder Sprecherräte der jeweiligen Parteien oder Gruppierungen gewählt.
Das bedeutet, für mehr als ein Drittel der in meiner Befragung erfassten Personen war der Runde Tisch Ausgangspunkt bzw. Durchgangsstation auf dem Weg in politische Spitzenpositionen.
Das eigentliche demokratische Vermächtnis des Runden Tisches ist jedoch sein Entwurf für eine neue Verfassung (der DDR).
Das ursprüngliche Ziel, den kompletten Entwurf noch vor den Volkskammerwahlen fertigzustellen und am Runden Tisch abschließend zu beraten, konnte durch die Vorverlegung des Wahltermins vom 06. Mai auf den 18. März 1990 nicht mehr realisiert werden.
Der Runde Tisch beschloss daher in seiner 16. und letzten Sitzung, dass aus den bereits vorliegenden bzw. in Arbeit befindlichen Teilen des Entwurfs ein Gesamtentwurf erarbeitet und im April 1990 der Öffentlichkeit zur Diskussion vorgestellt werden solle.
Der neugewählten Volkskammer wurde vorgeschlagen, am 17. Juni 1990 einen Volksentscheid über die Verfassung der DDR und ein Ländereinrichtungsgesetz durchzuführen. Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches sollte zudem in die Debatte um eine neue deutsche Verfassung gemäß Präambel und Artikel 146 des Grundgesetzes der BRD einbezogen werden. Auch der Runde Tisch war also damals nicht für einen Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes.
Der Beschluss erfolgte mit 32 Ja- und vier Nein-Stimmen bei zwei Enthaltungen. Wenige Tage vor dem Wahltermin für die Volkskammer war das in meinen Augen eine sehr beachtliche Zustimmung.
Ein detaillierter Vergleich von Grundgesetz und dem Entwurf des Runden Tisches soll Verfassungsrechtlern und Historikern vorbehalten bleiben. Gleichwohl will ich einige Punkte noch mal in Erinnerung rufen.
Machen die Grundrechte im Grundgesetz lediglich 18 Artikel (das sind etwas mehr als 12 Prozent) des Gesamtumfangs aus, finden sich im Verfassungsentwurf des Runden Tisches 40 Artikel zu diesem Gegenstand (das entspricht bei insgesamt 136 Artikeln einem Anteil von ca. 30 Prozent).
Neben dem Fakt, dass zahlreiche (Grundrechts-)Regelungen des Rund-Tisch-Entwurfes ausführlicher, weil detaillierter und konkreter als im Grundgesetz gefasst sind, finden sich hier auch Neuerungen bzw. weitergehende Positionen gegenüber bisherigen bundesrepublikanischen Maßstäben, die Grundüberzeugungen der politischen Vertreter am Runden Tisch, aber auch gewachsene DDR-Realitäten widerspiegeln.
So wollte man den absehbaren Debatten um den Paragraf 218, also dem Schwangerschaftsabbruch, offenbar durch eine klare Regelung vorbauen.
Artikel 4 Absatz 3 lautete daher: „Frauen haben das Recht auf selbstbestimmte Schwangerschaft. Der Staat schützt das ungeborene Leben durch das Angebot sozialer Hilfen.“
Der Verfassungsentwurf enthielt weiterhin Aussagen zur Freiheit der Wissenschaft (Art. 19) und der Kunst (Art.20), zum Schutz von nichtehelichen Lebensgemeinschaften (Art. 22), zur Achtung vor dem Alter (Art. 23), zum Recht auf Bildung (Art. 24), er sah vor „das Recht auf angemessenen Wohnraum“ (Art. 25), das „Recht auf Arbeit oder Arbeitsförderung“ sowie den Anspruch auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit (Art. 27), auf den „Schutz der natürlichen Umwelt als Lebensgrundlage gegenwärtiger und künftiger Generationen“ (Art. 33) sowie auf die Achtung und Förderung der nationalen Minderheit der Sorben (Art. 34).
Er regelte die Tätigkeit und die Rechte von Bürgerbewegungen, Vereinigungen, Verbänden und Gewerkschaften (4. Abschnitt), sowie das Aussperrungsverbot in nichtbestreikten Betrieben (Art. 39, Abs. 6) und enthält das Bekenntnis zur „Schaffung einer gesamteuropäischen Friedensordnung“ (Art. 41) ebenso wie die Verpflichtung zum Verzicht auf Angriffskrieg und Waffenhandel (Art. 45).
Erwähnt sei in diesem Zusammenhang noch, dass im Verfassungstext eine Volksabstimmung für drei Fälle zwingend vorgeschrieben wird, und zwar für einen Vertrag über die Einheit beider deutscher Staaten (Art. 132, Abs. 2), über das Inkrafttreten der Verfassung der DDR selbst (Art. 135) und auch über eine spätere gesamtdeutsche Verfassung (Art. 136).
Abschließend dazu noch zwei weitere interessante Fakten: Zum einen verzichtet der Verfassungsentwurf des Runden Tisches auf jegliche Notstandsgesetzgebung und zum anderen wurde ein später heiß umstrittener Punkt, nämlich die Eigentumsfrage, klar geregelt.
Der Art. 131 präjudizierte eindeutig das Prinzip „Entschädigung vor Rückgabe“, während im späteren Einigungsvertrag zwischen der BRD und der DDR unter massivem westdeutschen Druck eine Umkehrung dieses Grundsatzes erfolgte, was bekanntlich zu einer Reihe schwerer Verwerfungen führte.
Ob die Verfassung des Runden Tisches in ihrer Gesamtheit tatsächlich geeignet ist, die Konstitution einer modernen Gesellschaft ausgangs des 20. Jahrhunderts abzugeben, muss offenbleiben, da sie bekanntlich nicht mehr wirksam wurde und ihre Eckpunkte nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik leider auch in der dann gebildeten „Gemeinsamen Verfassungskommission“ von Bund und Ländern zur geplanten Novellierung des Grundgesetzes keinerlei Berücksichtigung fanden.
Der Ostberliner Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann, der einzige Vertreter des Runden Tisches in diesem Gremium, ist deshalb unter Protest von seinem Amt zurückgetreten.
Im Unterschied zu anderen Machtstrukturen in Phasen politischer Neuorientierung in Deutschland war sich der Runde Tisch seiner vergänglichen Funktion als Katalysator gesellschaftlicher Umwälzungen bewusst.
Er besaß weder den Anspruch, Parlament mit all seinen Konsequenzen zu sein – wie die Frankfurter Nationalversammlung von 1848 – noch das revolutionäre Sendungsbewusstsein, das von den Arbeiter- und Soldatenräten in der Novemberrevolution ausging.
Der Runde Tisch ebnete den Weg zu demokratischen Strukturen sowie freien Wahlen und machte sich dadurch letztlich selbst überflüssig.
Aber vom Runden Tisch wird in Deutschland die Erinnerung und vielleicht auch die Tradition bleiben, dass in zugespitzter politischer oder sozialer Konfrontation der friedliche Weg möglich ist, der Kompromiss mehr wiegt als das Beharren auf der eigenen Position, Dialog wichtiger ist als Abgrenzung, Toleranz und Akzeptanz Selbstständigkeit nicht untergraben und Ergebnisorientiertheit auch im Streit möglich ist.
Nicht zuletzt bleibt von den Runden Tischen ihr geistiges Arbeitsresultat, das sich einen hohen Grad an Aktualität über den Zeitpunkt der Selbstauflösung hinaus bewahrt hat. Neben dem Verfassungsentwurf sei hier z.B. an die Sozialcharta erinnert.
Deshalb lohnt es sich auch heute noch, darüber zu diskutieren.