Ansprache zum Jahresausklang der Fraktion 2010
(Anrede)
Bei unserem Jahresausklang Ende 2009 habe ich in weihnachtlichem Ambiente im Erzgebirge eine fast 45-minütige Weihnachtsansprache gehalten.
Keine Angst, ich will das heute nicht überbieten, sondern werde mich deutlich kürzer halten. Es ist eine gute Tradition, dass der Fraktionsvorsitzende zum Jahresabschluss einige Worte sagt, und so soll es auch heute sein, selbst wenn der Abschluss der Haushaltsberatungen noch vor uns liegt.
Deutschland scheint ausgerechnet kurz vor Weihnachten in höchster Gefahr zu sein, wenn man der Bundeskanzlerin Glauben schenken darf: Es drohe, so Frau Merkel letzte Woche im Bundestag, die Abschaffung der „dem Heiligen Abend vorgeschalteten Adventszeit“, da die Grünen immer stärker würden, und die seien bekanntlich gegen alles.
Das jedenfalls ist Merkels Schlussfolgerung aus dem Kampf um einen Kopf- bzw. Keller-Bahnhof im Schwabenland. Wir lernen daraus: CDU-Logik ist wirklich Glaubenssache.
In Sachsen ist den Advents-Sonntagen ein Kulturkampf um die Ladenöffnungen vorgeschaltet gewesen, und unbestätigten Gerüchten zufolgte hat das in Bautzen ansässige Sächsische Oberverwaltungsgericht damit einen wirtschaftspolitischen K. o. –Schlag gegen die Landeshauptstadt zugunsten des eigenen Standortes geführt: Denn während die Läden in Bautzen gleich an drei Adventssonntagen geöffnet sein dürfen, müssen sie in Dresden ganz geschlossen bleiben. Der Himmel intervenierte prompt mit Eisglätte und Schneeverwehungen, um den absehbaren Strom der Kauflustigen nach Bautzen zu bremsen …
Tatsächlich zeigt das Bautzener Ladenöffnungswunder nur, dass die Macht der Juristen, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern auch zu verändern, begrenzt ist, denn der Oberlausitzer Kaufrausch verdankt sich einer verwickelten Verordnungs-Vorgeschichte abseits des hohen Gerichts. Und dass ausgerechnet am Dresdner Amtssitz jenes Wirtschaftsministers der FDP, der am liebsten die Verkäuferinnen ganzjährig rund um die Uhr sieben Tage in der Woche zu Mägden von König Kunde machen würde, das Adventssonntags-Shopping ausfällt, bestätigt nur eine uralte Menschheits-Erkenntnis: Hochmut kommt vor dem Fall!
Herrn Morlok kann sich trösten – er ist mit seinem gescheiterten Kulturkampf nicht allein. Einige Wochen zuvor zog ein ehemaliger Berliner Finanzsenator los, das Abendland zu retten und das Morgenland fürchten zu lehren:
Die muslimischen Migranten, so sein Credo, belagern nicht mehr Wien, wie in grauer Vorzeit, sondern halten nun bereits auch hierzulande ganze Stadtviertel besetzt, die sie dem christlichen Westen abgetrotzt haben.
Sarrazin-Lesungen erfreuen sich auch an Orten in Sachsen, wo kaum jemand schon mal einen leibhaftigen muslimischen Migranten gesehen hat, eines mit dem Adventsshopping vergleichbaren Ansturms von Belehrungswilligen. Nun aber traf die Sarrazin-Gemeinde ein vernichtender Konter, und das unter dem heimtückischen Titel „Licht der Welt“: Der aus Bayern stammende Papst Benedikt XVI. verteidigte in seinem Interviewband-Bestseller sogar das Recht strenggläubiger muslimischer Frauen, sich im öffentlichen Raum mit einer Burka zu verhüllen. Der eigentliche Gegner sei nicht der Islam, sondern – Zitat – „der radikale Säkularismus“.
Wir erinnern uns: „Bild“ kämpfte für Herrn Sarrazin mit der Schlagzeile: Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!
Einen solchen Kampf führt nun auch der Papst, wenn er sich beklagt – Zitat: „Wenn man beispielsweise im Namen der Nichtdiskriminierung die katholische Kirche zwingen will, ihre Position zur Homosexualität (…) zu ändern, dann heißt das, dass sie nicht mehr ihre eigene Identität leben darf, und dass man (…) eine abstrakte Negativreligion zu einem tyrannischen Maßstab macht (…)“.
Der Papst möchte also auch weiterhin in aller Öffentlichkeit sagen dürfen, dass die Bibel Homosexualität als – Zitat – „schlimme Abirrung bezeichnet“ und – das ist nun wirklich mein letztes Papst-Zitat für heute – „dass die homosexuellen Handlungen in sich nicht in Ordnung sind.“
Was sagt uns das, liebe Genossinnen und Genossen? Es gibt hierzulande mehr Parallelgesellschaften, als man denkt, und wir LINKE sind gut beraten, uns nicht zum Richter darüber aufschwingen zu wollen, welche nun integrationsfähiger oder –williger ist.
Zumal auch noch nicht ganz geklärt ist, in welche Gesellschaft die parallelen Gesellschaften denn integriert werden sollen. In die Gesellschaft des Verfassungsschutzes, der in einer Ausstellung den Nazi-Oberpropagandisten Goebbels, mitverantwortlich für Menschheitsverbrechen, mit DDR-Politikern, die Verfolgte der Nazis waren, in einen Topf wirft? In die Gesellschaft einer Sächsischen Staatsregierung, die die Demokratietauglichkeit von Demokratieprojekten von einer Gesinnungsprüfung durch eben diesen Verfassungsschutz abhängig machen will?
Oder aber in eine Gesellschaft der sächsischen CDU, in der jeder Zweifler am Segen des Turbokapitalismus als „Extremist“ in die linke Ecke gestellt wird und zur Strafe mindestens hundertmal laut vorbeten muss: Die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik, entworfen von Ludwig Erhard, entwickelt von Helmut Kohl, in Sachsen eingeführt durch Kurt Biedenkopf, treu verwaltet von Georg Milbradt und nach seinem Ratschluss dem gläubigen Jünger Stanislaw Tillich anvertraut, war, ist und bleibt die beste aller menschenmöglichen Ordnungen!?
Ich finde: Es gibt gute Gründe für uns, dieses Gebet nicht mitzusprechen. Es gibt noch mehr Gründe für uns, das Hauptproblem dieses Landes nicht in muslimischen oder katholischen Parallelgesellschaften zu suchen, sondern in einem neoliberalen Mainstream, der an seinen faulen Früchten zu erkennen ist.
Wie sagte Frau Merkel – die ich heute ebenfalls letztmalig zitiere – einmal so eindeutig wie unpassend: Sozial ist, was Arbeit schafft. Ergebnis ist: Es gibt in Sachsen Hunderttausende, die arm sind, weil sie keinen Arbeitsplatz haben, aber es gibt bald eben so viele, die arm sind, obwohl sie arbeiten gehen. In solche Verhältnisse können und wollen wir niemanden integrieren – es ist keine richtige soziale Gerechtigkeit unter falschen wirtschaftlichen Umständen möglich!
Wir haben in diesem Jahr als Landtagsfraktion mehrfach gemeinsam mit der Bundestagsfraktion und ihren sächsischen Abgeordneten sowie anderen Landtagsfraktionen der Öffentlichkeit demonstriert, dass wir den demokratischen Sozialismus nicht isoliert in einem Bundesland aufbauen wollen, sondern für dieses Großprojekt über kompetente Verbündete in vielen anderen Bundesländern und im Bundestag verfügen. Ja, Klaus Bartl und Volker Külow haben sogar Kontakte in Kuba geknüpft, Monika Runge in China, und ich habe eine Mitfluggelegenheit des Ministerpräsidenten genutzt, um in der arabischen Welt zu netzwerken. Details kann ich natürlich heute nicht verraten – Wikileaks ist überall …
Eine erste Durchsicht der jüngsten Wikileaks-Dokumente – wer mich kennt, weiß, dass ich gerne viel und vor allem nachts lese – hat Beruhigendes ergeben: Ich bin darin nicht als „Alpha-Rüde“ verzeichnet, auch wenn ich mich schon heute auf den Schlachtruf der Fußball-WM 2018 in Russland vorbereite: „Put in!“ und spätestens 2022 zur Wüsten-WM wieder in Katar sein werden. Den Emir des Landes kenne ich ja inzwischen schon, und als ich hörte, dass dieser im kommenden Jahr seinen gesamten Riesenpalast mit neuem Porzellan ausstatten möchte, war ich mir mit dem Ministerpräsidenten darin einig, dass der „Polterabend“ der Meißner Manufaktur vielleicht doch etwas voreilig war, zumal es den Ölscheichs zwar an Wasser, aber nicht an Geld mangelt.
Hier kam Wikileaks zu spät. Schade ist auch, dass der entbrannte sozialistische Wettbewerb in der sächsischen LINKEN unter dem Motto „Wer ist der Rot-Rot-Grünste LINKE im Land?“ trotz seiner strategischen Bedeutung für die transatlantische Parteiengeschichte bis 2020 noch keine Wahrnehmung bei den Stimmungs-Seismografen der US-amerikanischen Diplomatie gefunden hat.
Dabei waren doch hochrangige Vertreter des US-Generalkonsulats erst vor wenigen Wochen zum Gespräch bei mir. Doch offenkundig bestehen immer noch Kommunikationsdefizite zwischen uns und der US-Botschaft in Berlin. Sie dürfen uns aber nicht von den eigenen Kommunikationsproblemen ablenken, derer wir trotz des erneuten Wachstums beim internen E-Mail- und SMS-Verkehrs nicht vollends Herr werden konnten.
Daher haben wir uns für einen geradezu revolutionären Lösungsansatz entschieden, den wir heute in einem vorweihnachtlichen Pilotprojekt erproben: Wir sprechen einfach direkt miteinander.
Das klingt ungewohnt, aber wir sollten uns dieser Herausforderung ohne falsche Scham und ohne Hemmungen stellen. Wein und Bier stehen als Hilfsmittel bereit, um Zungen zu lösen und Verklemmungen abzuhelfen.
Es hat im Übrigen – das soll Euch Mut machen – eine ganze Reihe von Beratungen, von Übungen des Miteinandersprechens im Vorfeld der heutigen Veranstaltung gegeben, um diverse organisatorische Hürden zu überwinden. Doch diese Beratungen waren letztlich erfolgreich, was man daran sieht, dass wir nunmehr alle hier zusammensitzen.
Bekanntlich ist ja alles relativ – aber ich finde: verglichen mit vorausgegangen Krisenzeiten hatte die Fraktion 2010 ein durchaus gutes Jahr, was man an aktuellen Umfragen, aber auch an den vielen gemeinsamen parlamentarischen rot-rot-grünen Initiativen erkennen kann.
Gleichwohl hat unser gesamter Fraktions-Organismus noch erhebliche Reserven in punkto politischer Effizienz, die wir so unbürokratisch wie möglich und im Dialog miteinander ausschöpfen sollten. Wir sind dazu da, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern zum Besseren zu verändern – das ist für LINKE in Sachsen aus verschiedenen Gründen objektiv schwerer als anderswo.
Auch und gerade deshalb danke ich allen Abgeordneten sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fraktion für ihre Arbeit und für das Vertrauen, dass es sich lohnt, an dem Projekt eines sozialen, kulturell reichen und ökologisch nachhaltigen Sachsen weiter mit ganzer Kraft mitzuarbeiten.
Klar ist aber auch: Ohne unsere Verankerung vor Ort in den Regionen, die wesentlich durch Euch, die unermüdlichen persönlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abgeordneten, geprägt wird, wäre unser Tun im Landtag oftmals nur Schall und Rauch. Für diese Unterstützung möchten wir Euch heute – ich sage das im Namen der Mitglieder und Mitarbeiter der Fraktion – ganz ausdrücklich und herzlich danken!
In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen anregenden Abend, einen guten gemeinsamen politischen Schlussspurt vor Weihnachten, nicht zuletzt bei den Haushaltsberatungen, und im Anschluss erholsame Festtage, in denen wir viel Zeit für die Menschen finden mögen, die wir noch mehr lieben als die Politik!